Ukrai­ni­sche Tenor Kon­stan­tin Zhu­chenko und Gün­ter Rüdell, ehe­mals Chef­di­ri­gent des Staat­li­chen Sin­fo­nie­or­ches­ters der Repu­blik Bela­rus Foto: LOKALBÜRO

 

Der Lie­der­zy­klus Die Win­ter­reise von Franz Schu­berts, 24 Lie­der für Sing­stimme und Kla­vier, liegt in mehr als 50 Ein­spie­lun­gen von Sän­ge­rin­nen und Sän­gern aller Stimm­grup­pen auf dem Ton- und Bild­trä­ger­markt vor. Immer wie­der reizt er auch Kom­po­nis­ten zu Bear­bei­tun­gen, zumeist unter Varia­tion der Instru­men­ta­tion. Eine weg­wei­sende Neu­fas­sung ver­fasst der Kom­po­nist Hans Zen­der, Begrün­der des Ensem­ble Modern, unter dem pro­gram­ma­ti­schen Titel Schu­berts Win­ter­reise. Eine kom­po­nierte Inter­pre­ta­tion für Tenor und klei­nes Orches­ter, die 1993 erst­mals erklingt. Jetzt ist sie unter unge­wöhn­li­chen Vor­zei­chen im Robert- Schu­mann-Saal des Kunst­pa­lasts Düs­sel­dorf auf­ge­führt wor­den. Als Kern eines Bene­fiz­kon­zerts, das auf dem Grund­ton von Schu­berts meta­phy­si­scher Düs­ter­nis die Roman­tik des alten Euro­pas in einer poli­ti­schen Dimen­sion mit den Kon­flikt­her­den unse­rer Gegen­wart verknüpft.

Schu­berts Kom­po­si­tion, auf Tex­ten des Dich­ters Wil­helm Mül­ler im Herbst 1827, ein Jahr vor sei­nem Tod, ent­stan­den, fängt in einer Serie von Moment­auf­nah­men die Situa­tion und die Gefühle eines „lyri­schen Ichs“, eines ver­lo­re­nen Men­schen ein, der der Welt abhan­den zu kom­men droht. In Zen­ders „kom­po­nier­ter Instru­men­ta­tion“ blei­ben die Melo­dien der ein­zel­nen Lie­der wesent­lich erhal­ten. Der Kla­vier­satz dage­gen wird durch Ein­satz von Holz- und Blech­blas­in­stru­men­ten, Schlag­zeug, Wind­ma­schine, Harfe, Gitarre und Akkor­deon instru­men­tiert. Dies geschieht nicht durch einen simp­len Aus­tausch eins zu eins, son­dern durch Erschaf­fung völ­lig neuer Reso­nanz­räume, die auf mensch­li­che Vor­stel­lun­gen und his­to­ri­sche Schau­plätze zurück­grei­fen. Das Dorf etwa, der Fluss, der Lin­den­baum, die Wasserflut.

Als Aus­füh­rende die­ses Zen­der­schen Kos­mos trat ein Ensem­ble von Musi­kern auf, das in die­ser Zusam­men­set­zung ein­ma­lig in der Welt sein dürfte. 24 solis­ti­sche Künst­ler des Kam­mer­or­ches­ters Ensem­ble Pace, womit im Titel der Begriff Frie­den auf­ge­grif­fen wird. Sie stam­men nach Anga­ben des Ver­an­stal­ters, des Ver­eins Begeg­nun­gen 2005, aus der Ukraine, Bela­rus, Mol­da­wien, Russ­land, Paläs­tina, Israel, Haiti und Kuba und leben über­wie­gend als vor Jah­ren ein­ge­wan­derte Kon­tin­gent­flücht­linge, aktu­elle Kriegs­flücht­linge und sons­tige Schutz­be­dürf­tige unter meist pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen in Nordrhein-Westfalen.

Dazu als Inter­pret der Gesang­stimme der ukrai­ni­sche Tenor Kon­stan­tin Zhu­chenko. Fer­ner als Lei­ter Julius Gün­ter Rüdell, ehe­mals Chef­di­ri­gent des Staat­li­chen Sin­fo­nie­or­ches­ters der Repu­blik Bela­rus, der 2020 Minsk aus poli­ti­schen Grün­den ver­las­sen muss. Rüdell, der in Hil­den lebt, ist auch als Geschäfts­füh­rer von Begeg­nun­gen 2005 engagiert.

Die Ein­nah­men des Düs­sel­dor­fer und wei­te­rer zunächst in Dort­mund und Vier­sen vor­ge­se­he­ner Bene­fiz­kon­zerte sind haupt­säch­lich für kriegs­ver­sehrte Musi­ke­rin­nen und Musi­ker und deren Kin­der vor­ge­se­hen, die im zen­tra­len Kran­ken­haus in Iwano-Fran­kowsk süd­lich von L´viw/Lemberg unter­ge­bracht sind. Zum ande­ren zur Behand­lung von fünf ver­letz­ten Musi­kern des aus Char­kiw emi­grier­ten Orches­ters, das der­zeit in einem Hotel in der Nähe von Bra­tis­lava lebt.

Mit der Intro­duk­tion zu Gute Nacht, der kur­zen kom­po­nier­ten Stille, den lei­sen Geräu­schen des Schlag­werks, dem Stak­kato-Ein­satz von Vio­li­nen, danach dem Hin­zu­tre­ten von Oboe und Flöte, ent­steht bin­nen Nu eine beson­dere, mehr und mehr beklom­mene Atmo­sphäre im Saal. Sie kor­re­spon­diert dem epi­so­dischen Abschied des „lyri­schen Ichs“ von sei­nem bis­he­ri­gen Zuhause und sei­ner Liebs­ten im Ein­gangs­lied. Sie kor­re­spon­diert auch der gene­rel­len Inten­tion Zen­ders, der eisi­gen Kälte der Lied­dich­tung schnei­den­den Aus­druck zu ver­mit­teln. Zen­der will die exis­ten­tia­lis­ti­sche Tiefe der Kom­po­si­tion gegen die roman­ti­sche Auf­füh­rungs­tra­di­tion „mit Frack und Stein­way“ behaupten.

Von Lied zu Lied, von Abgrund zu Abgrund in Mül­lers Kalei­do­skop des Unter­gangs spielt und win­det sich das Ensem­ble Pace im engen Dia­log mit dem Tenor Zhu­chenko in Zen­ders Kom­po­si­tion. In die Klang­wel­ten zwi­schen den Polen ener­vie­ren­der Dis­so­nanz und roman­tisch ver­klär­ter wie kari­kier­ter Dorf­idylle, denen Rüdell als umsich­ti­ger Lei­ter Raum wie Tiefe gibt. Dabei hapert es begreif­li­cher­weise nach, wie bekannt wird, gerade ein­mal vier Pro­ben-Wochen­en­den, an man­chen Stel­len. Im Aus­druck ein­zel­ner Instru­mente wie in der kom­ple­xen Inter­ak­tion. Gleich­wohl stei­gern sich die Musi­ker in eine Leis­tung, die für sich steht, die ver­mut­lich nicht frei vom Kon­text des rea­len Lebens jedes ein­zel­nen zu sehen ist.

Die anspruchs­volle Auf­gabe, einen Aus­gleich zwi­schen dem roman­ti­schen Über­bau einer Jahr­zehnte umfas­sen­den Auf­füh­rungs­pra­xis und der Rigi­di­tät des Stof­fes zu fin­den und in eine Linie zu über­füh­ren, muss ins­be­son­dere der Solo­sän­ger lösen. Zhu­chenko gelingt dies zu einem gewis­sen Grad, wobei ins­be­son­dere seine Aneig­nung des sprö­den Mül­lerschen Tex­tes impo­niert. Er ver­fügt über eine aus­drucks­fä­hige, in der Höhe gut beherrschte Stimme, die er fle­xi­bel und auf den Buch­sta­ben poin­tiert ein­zu­set­zen ver­steht. Wie sehr aus die­sem Bemü­hen auch gewal­tige Anstren­gung wer­den kann, macht Mut, das dritt­letzte Lied, erkenn­bar, wenn sich das „lyri­sche Ich“ gegen sei­nen end­gül­ti­gen Zusam­men­bruch auf­lehnt. Wenn Zhu­chenko sich mit einem extre­men Forte gegen das vom Schlag­werk erzeugte Geheule des Win­des zu behaup­ten sucht.

Nach der auch dank einer Pause auf eine Gesamt­spiel­dauer von zwei­ein­halb Stun­den gedehn­ten Auf­füh­rung nimmt das Publi­kum im etwa zur Hälfte gefüll­ten Saal alle Mit­wir­ken­den durch anhal­ten­den Jubel gleich­sam in sein Herz. Die Künst­ler haben durch ihr außer­or­dent­li­ches Enga­ge­ment viel­fäl­tige Gele­gen­hei­ten geschaf­fen, über die Welt nach­zu­den­ken, die der Kunst wie die der irdi­schen Zer­brech­lich­kei­ten. Diese Win­ter­reise hat das Zeug, über Anlass und Ziel­set­zung hin­aus Empa­thie zu stiften.

Text: Ralf Siepmann